Heft 5/2012 Küssen

 

 

Nachwort.
Abschiedskuss


Nach Nippes, der Zigarette danach, Wellness und Tattoo nun also Küssen. Das Geräusch, mit dem sich die geschwärzten Lettern vom Papier lösen, hieß schon zu Gutenbergs Zeiten »Kuss« – die Spur des Kusses, der Abdruck, ist die Urszene der Typografie überhaupt. Wir hatten uns das Heft zunächst sehr rot vorgestellt, in unterschiedlichen Nuancen, die ganze Lippenstiftfarbskala, provokant, vielleicht auch schreiend. Die ersten Ansätze zeigten sich als zu nahe am Kitsch (und dem rosa Nippes der ersten Ausgabe).
Auch dieses Mal waren grundsätzliche gestalterische Fragen neu zu beantworten: Wie das Thema sinnlich gestalten, ohne in Klischees abzudriften? Wieviel Nähe zum Thema muss sich in der Gestaltung widerspiegeln? Wie quer dürfen, wollen, müssen wir gestalten? Wieviel Harmonie wünschen wir uns, allem kritischen Bewusstsein zum Trotz? Wieviel Kontrast braucht es, um nicht in der Süße unterzugehen? Wie rational muss die Gestaltung sein, um dem wissenschaftlichen Anspruch zu genügen? Wo ist die Grenze zwischen sachlich und kühl, womöglich zu kalt für’s Thema, oder gar steif? Wie einheitlich, wie individuell unterschiedlich kann, muss, darf die Gestaltung gerade bei diesem Thema sein? Nach meinem Berufungsvortrag vor über 20 Jahren wurde ich [Ulrike Stoltz] gefragt: Gibt es eine weibliche Typografie? Vielleicht wäre dies eine Gelegenheit, sie zu beantworten. Aber vielleicht ist die Frage auch inzwischen überholt.
Das Heft zeigt sich jetzt als typografische Essenz der vorangegangenen Hefte: Wir verwen­den dieTextra für den Fließtext (wie in Nr. 3), es gibt gestürzte Überschriften (wie in Nr. 1), die miteinem Bildmotiv hinterlegt sind (wie in Nr. 3), die Textblöcke sind (teilweise) gegeneinanderverschoben (wie in Nr. 2), Fußnoten finden sich immer auf der jeweiligen Doppelseite (wie bei allen Heften, außer Nr. 4) – also vieles wie bisher, oder mit anderen Worten: Man kann den Blocksatz nicht neu erfinden! Man kann ihn aber immer wieder anders einsetzen – genau hier beginnt typografische Gestaltung. Viele Details wurden diesmal anders gelöst, stehen in einem anderen Kontext, wirken anders : Die Buchstaben der Überschriften werden zu Gucklöchern, wir sehen Lippen in Nahaufnahme,  herange­zoomt aus den Beautyfotografien 1 von Sabine Liewald:  Haut­­strukturen, von Lippenstift und Lipgloss bedeckt, manche mit Glitzersteinchen ver­schönert, Farbklänge zwischen Orange und Violett. Wir kommen dem Kuss nah, so nah wie möglich, und verlieren ihn gerade dadurch aus den Augen. Der Kuss in Nahauf­nahme, als Peep-Show – oder auch als Schlaglicht. Die Lippen treten hinter den Buchstaben hervor, oder durch sie hindurch, als seien die Lettern Löcher, als wäre ein Kuss hinter dem Papier versteckt, den Leser lockend. Um diesen Effekt erreichenzu können, haben wir uns von der zweiten Schrift, die das Querformat von Anfang an geprägt hat, für diese Ausgabe verabschiedet: Die Swift hat selbst in den fetten Schnitten nicht die nötige Strichstärke. Unsere Wahl fiel auf die Utopia, die eine große Bandbreite an Schnitten bietet und sich bei entsprechendem Satz zu fast mosaikartigen Flächen schließt. Ist der Name Programm? Spiegelt sich hier, »dass ›Liebe [...] ein Märchen, eine Utopie‹ sei«? 2 Funktionale und inhaltliche Gesichtspunkte scheinen einander auf’s Schönste zu ergänzen!
Die Peep-Show findet sich auch in den Fotografien von Stefan Kaz: Aus einer schwarzen Maske strecken sich uns die verschiedensten Münder entgegen, nicht immer einladend, manche gar kratzig oder frech. Wir verteilen sie über das ganze Heft wie kurze, immer wieder zwischengeschobene Kommentare. Kaz' ›Kratzkussmünder‹ heißen einen Artikel küssend willkommen oder verabschieden ihn mit einem Kuss.
Mit diesem Heft verabschiedet sich Ulrike Stoltz als visuelle Mitherausgeberin. Die Zusammenarbeit mit den textuellen Mitherausgeber/innen hat viel Spaß gemacht und immer wieder auch gezeigt, wie unterschiedlich Wissenschaftler/ innen und Gestalter/innen denken können – was für eine schöne Bereicherung!
Ähnliches gilt für die Arbeit mit den Studierenden, und wir möchten auch hier die Gelegenheit für eine zusammenfassende Rückschau nutzen. Nachdem die ersten drei Hefte von Studierenden des (damals noch: Diplom-) Studiengangs Kommunikationsdesign an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig gestaltet worden waren, ging die vierte Runde an die Studierenden der Folkwang Hochschule in Essen und ihren Professor Ralf de Jong als visuellen Gast-Herausgeber. Das hier vorliegende fünfte Heft wurde von Studierenden des vierten Semesters im Bachelor-Studiengang Information and Communication Design der Hochschule Rhein-Waal gestaltet. Jörg Petri, zu Beginn von Querformat noch künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HBK Braunschweig, ist dort inzwischen Professor. Jede Gruppe von Studierenden ist anders; es gab kleine Teams von nur zwei (Nr. 2) und große Gruppen in wechselnder Besetzung (Nr. 1); es gab Studierende mit eher typografischen und solche mit eher bildhaften Begabungen und Interessen (verteilt auf alle Hefte). Alle haben immer mit großem Einsatz und Begeisterung gearbeitet und jedes Heft innerhalb des vorgegebenen Rahmens visuell neu erfunden. Die Studierenden aus Kamp-Lintfort sind von allen die ›jüngsten‹, weshalb ihnen neben dem »Jippie, endlich fertig!« ein ganz besonderes »Danke! Bravo!« gebührt.
Gedruckt wurde auch dieses Heft von Andreas Pöge in Leipzig, den wir als einen engagierten und mitdenkenden Partner erleben und dem wir an dieser Stelle für seine kontinuierliche Hilfestellung ausdrücklich danken. Denn immer wieder gilt der schöne Satz von HAP Grieshaber: » Drucken ist ein Abenteuer! «

Jörg Petri und Ulrike Stoltz