Heft 4/2011 Tattoo

 


Nachwort.

Tattoografie


Tattoos sind aus Perspektive der Typo­­grafie ein interessantes Phänomen. Bei der Wahrnehmung einer Tätowierung offenbart sich für mich als Gestalter die erstaunlichste Eigen­schaft der Hautbilder: Das »Es ist geschehen« überstrahlt das »Was ist zu sehen«. Geht es bei der typografischen Gestaltung um eine gleichzeitige, verschränkte Wahrnehmung von Inhalt und Form, kommt es bei Tätowierungen zu einer Art Überrumpelungseffekt: Dass ­etwas dauerhaft in die Haut eingebracht wurde, scheint wichtiger als das, was tatsächlich zu sehen ist. Es mag mit der schmerzhaften Herstellung und der Endgültigkeit der Form zusammenhängen, dass dieser Überdeck­ungseffekt auftritt. Denn die zu überwindende Schmerzschwelle wird für das Motiv wichtig. Beim Gedanken daran, sich einem langwierigen und schmerzhaften Prozess auszuliefern, um ein Hautbild zu tragen (wer es schmerzfrei ausprobieren möchte, dem sei an dieser Stelle unsere Edition empfohlen!) wird sofort klar, dass die eingestochenen Motive und die dafür ausgesuchten Hautpartien sorgfältig gewählt sind. Wer stundenlang unter der Nadel leidet, möchte nicht nur irgendeinen undefinierbaren Fleck auf dem Oberarm tragen. Es ist selbstverständlich, dass sich Tätowierte/r und Tätowierer/in einigen, was in welcher Form dargestellt wird. Für den Tätowierer geht es darum, ein Motiv den physischen Gegebenheiten entsprechend umzusetzen. Hier zeigt sich die Analogie zur Typografie: Auch in der typo­grafischen Gestatung besteht die Aufgabe darin, eine konkrete Form für einen bestimmten Text in einem bestimmten medialen Umfeld, einer bestimmten Rezeptionssituation zu finden. Denn ein Text ist nie nur ein Text, er tritt nicht formlos an uns heran. Er ist wie das Tattoo Inhalt und Textur / Form zugleich.

An dieser Gelenkstelle zwischen Text und Textur liegt der Ausgangspunkt für die Gestaltung dieser Querformat-Ausgabe. Den Einstieg ins Heft bilden acht Fotos noch untätowierter Haut. Die Artikel werden von zwei typografischen Mustern umspielt. Zum einen stehen neben den Text-Kolumnen geometrische, ineinander verwobene Ornamente, die den Zeilenrhythmus aufgreifen; zweifarbige Muster, deren Farbigkeit sich mit jedem Druckbogen ändert. Um diese Ornamente großflächig herstellen zu können, wurden eigens vier Ornament-Schriften angefertigt. Sie enthalten grafische Elemente, die durch horizontales und vertikales Duplizieren ein sich wiederholendes Muster bilden. Diese Muster sind aufgrund ihres modularen Aufbaus so wandlungs­fähig, dass jeder Artikel von seinen eigenen Schmuckformen umspielt wird. Zum anderen ist im oberen Seitenbereich ein hellgraues Punktraster zu sehen, das sich ab und an zu Tattoo-Motiven aus ASCII-Art formiert. Als bildhafter Umgang mit Text-Elementen wurde ASCII-Art bereits in den 1970er Jahren entwickelt. Dabei werden nicht die eigent­lichen Buchstaben, sondern deren Grauwerte verwendet, um aus der Kombination verschiedener Grauwerte bildliche Darstellungen zu erzeugen. Dieses Text-zu-Bild-Spiel wurde populär zur Frühzeit des Internets, als Bilder im Vergleich zu Texten im Netz schwer transportierbar waren. ASCII-Art-Motive sind die digitalen Bilder der Urzeit- E-Mails. Auf unseren Seiten orientieren sie sich am Zeilentakt des Fließtextes. (Die für diese Ausgabe entstandenen Schriften können von www.querformat-magazin.de / muster heruntergeladen werden. Mit ihnen lassen sich die im Heft dargestellten und viele weitere Muster herstellen.) Der Rhythmus des Hefts ergibt sich aus der Länge der Beiträge. Unterstützt wird er dabei, wie in der Musik, durch Zwischenschläge, ganz­seitige Bilder und Texte. Auf der Bildebene wurde eine Fotoreihe konzipiert: Nachinszenierungen tradi­tioneller Tattoo-Motive mit realen Objekten, in echt und 3D gewissermaßen, wie ein mit Stacheldraht umwickeltes, geflügeltes Schweine­herz oder ein Totenkopf mit Rosen und Kerzen. Die Zwischentexte sind Textfunde der Redaktion rund ums Thema und bilden farbige Kontrapunkte. Wir möchten Sie nun einladen, ­Ihren eigenen Rhythmus beim Blättern, Betrachten und Lesen des Hefts zu finden und sich wie wir bei jeder Seite erneut zu fragen, was Text und was Bild, was Motiv und was Ornament ist  –  und was Verbrechen! An dieser Stelle wollen wir unseren herzlichen Dank an die Gestalter­innen dieses Hefts aussprechen. Die Gestaltung dieser wunderbaren Ausgabe verdanken wir Jana-Lina Berkenbusch, Isabel Heckmann, Mareike Hundt und Claudia Tolksdorf, Studierenden der Folkwang Universität der Künste in Essen, betreut von Prof. Ralf de Jong.

Jörg Petri