Heft 7/2014 Altern

 

 

Nachwort.
Wenn man »alt« drückt, wird alles, wie es war…


Das Alter gleicht einem auf einer Schallplatte gespielten Ton. Sein Klang ist nur im Hier und Jetzt, und dennoch kann er nicht gedacht werden ohne die Rille, den Prozess des Alterns, ohne ein ständiges Fortschreiten vom Jetzt ins Später. So gesehen wäre die typografisch monströse Schreibweise Alter(n) eigentlich unnötig, würde sie uns nicht diese leicht vergessene Selbstverständlichkeit zurück ins Bewusstsein holen: jedes Alter ist nur ein Punkt auf der Rille der Zeit, eine Singularität vor dem Ereignishorizont, ständig auf dem Weg ins zunehmende Alter. Auch die Typografie altert und bildet im Wandel der Ideo‑ logien und Technologien immer neue Ausdrucksformen heraus. Das ist um so bemerkenswerter, als manche Bereiche fast gesetzesgleich konstant bleiben, und dabei andere, ebenso kontingente, einem permanenten Wandel unterliegen. So bleiben die Grundformen der Buchstaben über Jahrhunderte relativ konstant; welche Buchstaben und Zeichen aber zu einer Schrift gehören, war und ist einem permanenten Wandel unterworfen.

Interessanterweise sind es weniger gestalterische als viel stärker technische und pragmatische Faktoren, die Einfluss darauf haben, was als »eine Schriftart« bezeichnet werden kann. Der nach Deutscher Industrie-Norm aufgeteilte Antiqua-Setzkasten für Bleilettern berücksichtigte 125 Zeichen, darunter auch unsichtbare, wie Wortzwischenräume. Eine Linotype-Setzmaschine von 1884 kam mit 90, in manchen Versionen sogar nur 55 Zeichen aus, der American Standard Code for Information Interchange ASCII aus dem Jahre 1963 mit 128, die TrueType Schriften der 1980er konnten bis zu 256 Zeichen abbilden. Der aktuelle Schriftstandard OpenType unterstützt Unicode, in dem mehr als 100.000 Zeichen definiert sind, von denen weit über 1.000 für typografischen Satz lateinisch notierter Sprachen verwendet werden. Die aktuelle Unicode Version 7.0 enthält neben allen lebendigen Sprachen der Welt auch Symbole wie Emojis, Sterne oder ein Hand-Symbol mit ausgestrecktem Mittelfinger. Die größten multilingualen Schriften verwenden aus diesem Zeichenvorrat über 60.000 Zeichen. Doch auch wenn die digitale Kommunikation weiterhin neue Anforderungen und Superlative hervorbringt, tragen die digitalen Schriften und Standards immer die Spuren des Alten in sich. Die schönen deutschen Schriftsetzer-Bezeichnungen »Dickte« (Buchstabenbreite) oder »Punze« (Buchstabeninnenraum, z. B. beim o) waren zu Gutenbergs Zeit buchstäblich bleierne Fakten.

Heute sind diese Maße, Größen und Grenzen als immaterielle Linien Elemente der endlosen Matrix der digitalen Typografie, aber dennoch nicht weniger präsent und optisch wirksam. Auch die Buchstabenformen altern, allerdings in vergleichsweise tektonischem Tempo und mit steter Referenz auf das Alte: Die Großbuchstaben unseres Alphabets sind mehr als 2000 Jahre alt, die Kleinbuchstaben ungefähr 1000, die arabischen Ziffern ca. 800. Zwar wird die Formenvielfalt immer weiter ausdifferenziert, entlang der Grundformen werden immer neue Schriften entwickelt, trotzdem bleibt ein a ein a, und ein a ein a. Moderne Typografie bedeutet immer, Zeichen und Formen verschiedensten Alters zu kombinieren. Es geht darum, Wege zu finden, aus diesen Kombinationen etwas Überraschendes, Interessantes, Inspirierendes zu schöpfen und dabei die Botschaft des Textes zu unterstützen. Der Gedanke des Durchscheinens des Alten im Neuen findet sich auf verschiedenen Ebenen der Gestaltung des Magazins wieder. Die Artikel starten mit einem groß geschriebenen Titel, der auf ein transparentes Blatt und die darunterliegende Seite aufgeteilt ist. Der ganze Titel ist nur in Kombination der beiden Seiten als Ganzes zu lesen, blättert der Leser das transparente Papier weg, bleibt ein lesbarer, aber unvollständiger Schriftzug zurück. In den Titeln werden verschiedene Schrifttypen, die zeitliche Bezüge zulassen, in einen formalen und farblichen Kontrast gesetzt. Kleine Randnotizen zu den Schriften verweisen auf die ursprünglichen Entstehungszeiten und den Zeitpunkt ihrer Digitalisierung. Auch wenn die Formfindung der Lettern auf der Trajansäule 130 v. Chr. stattgefunden hat, mussten sie später jeder neuen Technologie angepasst werden, um frühestens seit Mitte der 1980er Jahre mit Auftreten des Desktop-Publishing in ihr aktuelles, digitales Format zu gelangen.

Dazu wurde jede Letter neu gezeichnet, auch digitale Typografie ist immer eine Neu-Interpretation von etwas Altem. Die als Hauptschrift in dieser Ausgabe von Querformat verwendete Roboto stellt 1021 Zeichen bereit, ist im Vergleich zur Trajan aber noch ein »Klein-kind«. Sie wurde von Christian Robertson für Google gestaltet, um als Teil des Android-Betriebssystems 4.0 für gut lesbaren Text auf kleinen, aber hoch auflösenden Smartphone-Bildschirmen zu sorgen. Diese Eigenschaf-ten nutzen wir im Heft zum Altern, um durch die hohen Mittellängen auch in kleineren Graden gut erkennbar zu sein. Die klaren und neutralen Formen erzeugen einen vertikalen Rhythmus, der typisch für Bildschirmschriften ist. Farblich bleibt das Heft bunt, aber nicht schreiend, die Farbtöne sind meist gedeckt, aber nicht altbacken. Die Auszeichnungs-Farben sind in ihrem Verlauf abgestimmt, um zwischen den Artikeln einen Unterschied zu markieren und gleichzeitig einen Verlauf von wenig gesättigt zu kräftiger und bunter herzustellen. Für den Einband des Heftes wurde der Schriftzug auf spiegelndes Chromolux-Papier gedruckt, in dem die Leserin sich selbst, untertitelt durch den Schriftzug »Altern«, spiegelt. Die Edition dieser Ausgabe, eine Fotopostkarte von Martin Granser, ist Teil der Bildstrecke Sun City, von der sich noch weitere Motive im Heft befinden. So spiegelt sich die Durchdringung des Alten mit dem Neuen auch im Gestaltungsprozess dieser Querformat-Ausgabe, denn natürlich ist auch dieses Heft komplett am Rechner entstanden. Darauf verweist auch der verrätselte Titel dieses Nachworts. Meine Studierenden haben mich auf diesen Satz hingewiesen, den ich in einer Erläuterung der Funktionen von Adobe InDesign, dem Layoutprogramm, in dem diese Ausgabe entstand, gesagt haben muss. Dort werden Formatvorlagen für Schriftarten, -größen usw. angelegt, die dann dokumentenweit zur Verfügung stehen.

Sobald manuell eine Änderung an den typografischen Parametern vor-genommen wird, markiert das Programm die Vorlage mit einem Symbol. Dieses verschwindet erst wieder, wenn der Text auf die ursprünglichen Einstellungen zurückgesetzt wird: durch Anklicken der Vorlage bei gleichzeitigem Drücken der alt-Taste. Mit [alt] wird alles so, wie es war. Querformat Altern ist trotzdem ein »analoges« Heft, die Papierform ist in Transparenz und Haptik der digitalen Vorlage überlegen. Gleichzeitig bedeutet dieses Ausloten dessen, was mit dem Material möglich ist, ein produktionstechnisches Wagnis, dessen Gelingen sich erst dann zeigen wird, wenn Sie, werte/r Leser/in, das Heft in Händen halten. Wir haben versucht, genauso wie das Alter ein sichtbarer Zustand eines sich fortschreibenden Prozesses ist, das Heft visuell im Jetzt zu platzieren, es aber deutlich altern zu lassen: Das Papier, auf dem Sie diese Seiten lesen, ist holzhaltig und wird im Lauf der Zeit und abhängig von der direkten Sonneneinstrahlung langsam vergilben, und das schneller, als wir es von den heutigen, hochbeständigen Papieren gewohnt sind. Dieser fast unplanbare Prozess ist, genau wie das haltbare Bedrucken des spiegelnden Einbandes oder das Durchscheinen der Titel auf den transparenten Blättern, etwas, das man zunächst konzeptionell entwickelt. Wie wertvoll diese Ideen aber tatsächlich sind, zeigt sich erst in der Umsetzung, und zwar dann, wenn das Heft produziert und ausgeliefert, ganz und gar fertig ist. Drucken ist immer, wie schon H.A.P. Grieshaber sagte, ein Abenteuer. Und so gilt, wie bei jedem Wagnis, unser Dank besonders den Abenteurern/innen, die es eingegangen sind: Andreas Pöge von Pöge Druck, der uns als beratender und abwägender, aber nie ängstlicher Partner für Druck und Buchbinden betreut hat, den Studierenden der Hochschule Rhein-Waal, die sich trauten, in ihrem vierten Fachsemester eine unvorhersehbare Reise in die Magazin-Gestaltung zu unternehmen, und meiner Mitarbeiterin Lea Reck, ohne deren Umsicht und Blick fürs Detail die Gestaltungs- und Korrekturphasen nicht zu bewältigen gewesen wären.

Jörg Petri